Blutdruckbeurteilung
Ein Hauptproblem in der Einschätzung der Blutdrucksituation eines Patienten liegt in der ausgeprägten Variabilität des Blutdrucks. Eine Herzfrequenz von 70 Schlägen pro Minute bedeutet, dass in 24 Stunden etwa 100.000 Herzschläge und damit Blutdruckkurven auftreten. Aus invasiven Messungen weiß man, dass jede einzelne unterschiedlich ist, somit haben wir mit etwa 100.000 unterschiedlichen Blutdruckwerten pro Tag zu rechnen. Selbst mit dem nicht-invasiven Gold-Standard, dem 24 Stunden Blutdruckmonitoring, können wir im klinischen Alltag höchstens etwa 70 von diesen 100.000 Blutdruckwerten registrieren. Und auch bei diesen etwa 70 Blutdruckwerten im 24 Stunden Monitoring fällt eine große Streuung auf: in einem typischen Beispiel einer 24 Stunden Messung betrug der maximale Blutdruck eines normotensiven Patienten 150/96 mm Hg, der minimale Blutdruck 100/61 mm Hg. Bei hypertensiven Patienten sind die Blutdruckschwankungen noch grösser, in einem weiteren typischen Beispiel lagen die Werte zwischen 186/119 mm Hg und 80/48 mm Hg. Man erkennt sofort, dass wir große Schwierigkeiten haben, die Blutdrucksituation eines Patienten (und damit sein kardiovaskuläres Risiko) mit nur wenigen Messungen richtig einzuschätzen. Die traditionelle Arztmessung in der Ordination kann – schon aufgrund der natürlichen Blutdruckvariabilität – offensichtlich nur erste Anhaltspunkte liefern. Für die Diagnose “Hypertonie” müssen Verfahren zur out-of-office-Messung wie das 24 Stunden Blutdruckmonitoring und die Blutdruckselbstmessung herangezogen werden, um die Anzahl der Messungen zu erhöhen.
Ein zweites Problem der Arztmessung ist das “white coat”-Phänomen, also der Blutdruckanstieg im Angesicht eines Arztes. Dieser Effekt wurde vor etwa 30 Jahren mittels invasiver Messungen eindrucksvoll bewiesen und betrifft als Praxishochdruck (Blutdruck nur in der Ordinationsmessung erhöht, im Alltag jedoch normal) etwa 20% der Bevölkerung (häufiger ältere Patienten, Frauen und Personen mit leichter Hypertonie). Der Effekt ist bei männlichen, älteren und erfahreneren Ärzten (z.B. Professoren) besonders stark ausgeprägt.
Beide Probleme (Blutdruckvariabilität, “white coat” Phänomen) sind nicht nur theoretischer Natur: die Werte des 24 Stunden Monitorings und der Selbstmessung sind sowohl in diagnostischer Hinsicht (Zusammenhang mit Endorganschäden) als auch in prognostischer Hinsicht denen der Arztmessung deutlich überlegen. Das geht sogar so weit, dass Patienten mit “maskierter Hypertonie” (in der Arztmessung normotensiv, in der 24 Stundenmessung oder in der Selbstmessung hypertensiv) ein praktisch gleich hohes kardiovaskuläres Risiko haben wie Patienten, die bei allen Messverfahren hypertensive Werte ergeben.
Die Fachgesellschaften haben diese Phänomene auch in ihren Empfehlungen berücksichtigt: die Österreichische Gesellschaft für Hypertensiologie (ÖGH) empfiehlt 2013 in den letzten Richtlinien für die Diagnose der Hypertonie die Durchführung eines ambulanten 24 Stunden Blutdruckmonitorings. Alternativ, wenn dies nicht möglich ist, kann die Diagnose mittels zumindest 30 Werten der Blutdruckselbstmessung mit einem validierten Gerät gestellt werden. Eine entsprechende Schulung der Patienten ist aber hierbei Voraussetzung. Auch die Britische Hochdruckgesellschaft fordert, die Diagnose Hypertonie mit einer Langzeitblutdruckmessung zu stellen, in den Guidelines der Europäischen Hochdruckgesellschaft ist die “out-of-office”-Messung eine Klasse IIa Empfehlung (“soll durchgeführt werden”).
Die Grenzwerte zwischen normalem Blutdruck und Bluthochdruck sind mit den verschiedenen Verfahren aber unterschiedlich.
Schwellenwerte zur Diagnose der arteriellen Hypertonie mit den verschiedenen Messmethoden; adaptiert nach den Empfehlungen der ÖGH 2013 (Journal für Hypertonie2013; 17:99-108)
Messmethode | Hypertonie ab |
---|---|
Ordinationsmessung (Arzt) | 140/90 mm Hg |
24 Stunden Monitoring – Gesamtdurchschnitt | 130/80 mm Hg |
24 Stunden Monitoring – Tagesdurchschnitt | 135/85 mm Hg |
24 Stunden Monitoring – Nachtdurchschnitt | 120/75 mm Hg |
Blutdruckselbstmessung Durchschnitt | 135/85 mm Hg |